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Der Ihringer Gemeindewald und der Lilienhof

Der geneigte Leser wird bei dieser Überschrift sofort sagen: "Ihringer Gemeindewald? Das gibt es doch gar nicht!" Aber er möge sich belehren lassen. Der Badische Staat hatte Wald in der Größe von 876 Morgen 1 Viertel 91 Ruten am 30. November 1835 an die Gemeinde Ihringen für 74 545 Gulden verkauft. Die Gründe, weswegen es damals zu diesem Verkaufe kam, wären heute sicher nicht mehr stichhaltig. Das war der Gemeindewald von Ihringen. Freilich - lange besaß die Gemeinde den Wald nicht. Schon im Jahre 1846 gab sie, ringsum den Hof abrundend, einzelne Waldparzellen - 315 Morgen - um den Preis von 52 275 Gulden ab. Der beste, zusammenhängende Teil - 561 Morgen - ging um 46 420 Gulden im Jahre 1855 in den Besitz einer Waldgesellschaft, bestehend aus einem Kaiserstühler und zwei Elsässern, über zur Umwandlung in Ackerboden. Das jedoch kam nicht zustande. Denn die Waldgesellschaft konnte den Wald schon 1857 für 80 000 Gulden wiederverkaufen, und zwar an die "Badische Gesellschaft für Tabaksproduktion und Handel". Auch hier hatte der Wald keine lange Bleibe. Er wurde bald darnach urbar gemacht. Es entstand ein ausgedehnter Gutshof - Hof Lilienthal. Der Roder wird wohl Graf Bismarck, ein Neffe des Reichskanzlers, gewesen sein, der ein Schloß erbaute und vor allem ein Pferdegestüt unterhielt. Auf ihn folgte Baron von Wogau. Und dann die Familie Dr. Petersen. Das ist oder vielmehr das war der Gemeindewald von Ihringen. Aber interessanter als diese Besitzverhältnisse ist die Vergangenheit des Waldes. Schon zu Beginn der dreißiger Jahre gab mir ein junger Angestellter des Lilienhofes eine kleine Schrift zum Lesen. Sie war 1860 geschrieben, also um die Zeit, in welcher - vielleicht einige Jahre vorher - der Wald urbar gemacht wurde. Ich las das zerlesene Büchlein und wurde von seinem Inhalt so gefangen, daß ich es seinem Besitzer unbedingt abkaufen wollte. Aber der gab es nicht her. So machte ich eben Notizen und will hier erzählen, wie es mit dem Gemeindewald von Ihringen zugegangen ist oder zugegangen sein soll. Der Verfasser jener Schrift geht von der Tatsache aus, daß die eigentümlichen Verhältnisse des Lößbodens gestatten, sehr steile Raine, gleich Mauern, mit geringen Kosten aufzusetzen, so daß durch diese ein für Ackerfeld zu steiles Terrain leicht durch Raine zu pflügbarem Gelände umgewandelt werden kann. Wenn man die meist höher gelegenen Wälder aufsucht, so finden wir auch in diesen die gleichen Raine und Terrassen, die wohl niemals zur Anlage von Wald ausgeführt worden sind, sondern in früherer Zeit Ackerland gewesen sein müssen. Der ganze Hof Lilienthal besteht, als Ihringer Gemeindewald, aus solchem in früheren Zeiten verlassenem Ackerfeld aus Terrassen, die mit Wald bewachsen waren. Beim Roden und Stocken und anderen Erdarbeiten - vor 1860! – hatten wir gehofft, auf dem Hof Lilienthal irgend etwas auf frühere Zeiten Bezügliches zu finden, allein vergeblich. Nur einiges Wenige, das uns einigermaßen Aufschluß geben kann, wurde aufgebracht.  So z. B. haben wir Hunderte von alten Rebmessern gefunden, deren Form teils derjenigen, die jetzt bei der Bevölkerung im Gebrauch ist, sehr ähnlich, teils von dieser verschieden ist. Letztere Form, allenthalben sehr verrostet, ist jedenfalls das ältere Rebmesser gewesen. Die große Anzahl der gefundenen Messer spricht für einen in früheren Zeiten sehr ausgedehnten Rebbau auf dem Hofe, was auch die vielen verwilderten Reben bestätigen, bei denen man an einigen Stellen noch ihre reihenweise Pflanzung erkennen kann. Ja sogar, es erscheint unglaublich, fanden wir Überreste von Rebpfählen neben hundertjährigen Eichen vor, die sich durch ihren Kiengehalt erhalten haben. Es scheint somit die Sage in Ihringen, daß der Ihringer Gemeindewald in früherer Zeit ein Rebberg gewesen sei, auf dem 500 Rebknechte gehalten worden seien, teilweise ihre Richtigkeit zu haben. Neben den Rebmessern fanden wir noch viele Hunderte von Hufeisen vor, und zwar zum kleinen Teil solche, welche, noch wenig oxydiert, die Formen der jetzt üblichen Eisen zeigen, zum größten Teil aber waren es solche, deren Nagelköpfe nicht in einzelnen Vertiefungen ruhen, wie es jetzt hier üblich ist, sondern in Rinnen, die auf beide Hälften der Eisen eingedrückt sind, und nur mit sieben Nägeln je drei und vier - befestigt waren. Auch die Größe dieser älteren Hufeisen mußte auffallen. Sie hatten alle nur eine Länge von 3 Zoll 5-8 Linien und eine Breite von 3 Zoll bis 3 Zoll 3 Linien. Römischen Ursprungs, wie man gemeint hatte, konnten sie nicht sein. Denn die Römer waren 400-500 n. Chr. Geb. abgezogen. Es muß daher angenommen werden, daß hier entweder nur kleine, feinhufige Pferde im Gebrauch waren oder aber die Feldgeschäfte mit Maultieren ausgeführt worden sind. Wie lange aber lag das wohl schon zurück? Man beobachtete das Alter der Bäume, die auf den Terrassen wuchsen. Die ältesten Eichenbäume, die man bei der Urbarung (kurz vor 1860) fällte, zeigten nach den Jahresringen ein Alter von ungefähr 150 Jahren. Und diese scheinen sich, oft noch erkennbar, aus Wurzelausschlägen gebildet zu haben. Man könnte also annehmen, daß diese Eichen der zweiten Generation angehören. Nach Aussage von alten, glaubwürdigen Männern soll vor 50 bis 60 Jahren (von 1860 an gerechnet) der Ihringer Gemeindewald einer der schönsten in der Umgebung gewesen sein. Alle sind sich darüber einig, daß in früherer Zeit auf dem Platz, wo sich jetzt der Hof befindet, es niemals Tag geworden, so alte und hohe Bäume seien da gestanden. Daraus kann man schließen, daß schon dem Alter der gefällten Bäume nach jene Lößterrassen mindestens über 300 Jahre schon nicht mehr zu Ackerfeld verwendet wurden. Werfen wir weiter einen Blick auf die Humusschicht, die auf den waldbedeckten Lößterrassen liegt. Sie mißt 1 bis 1'/2 Fuß. Wieviel Zeit ist wohl nötig gewesen, um eine solche Menge Humus sich ansammeln zu lassen? Eines kann man mit Gewißheit behaupten: Die Zeit von 1860 bis zurück zum Dreißigjährigen Krieg, der ganze Ortschaften und Länderstriche zerstörte, hat nicht ausgereicht, den vorhandenen Humus zu bilden. Man hat Ihringer Felder zum Vergleich herangezogen, welche als weitest gelegen, selten gedüngt wurden und an die Felder des Lilienhofes stoßen. Was zeigte sich da? Während das auswärts des Hofes gelegene Feld die weiß-gelblichen Farben des Lößes zeigte, ist das Lilienhofer Feld - aus dem Walde gerodet - bis 1 1/2 Fuß tief dunkelbraun bis schwarz gefärbt. Oft sind solche humuslosen Außenfelder mit 20- bis 30jährigem Föhrenstand bewachsen. Aber in diesen 20 bis 30 Jahren hat sich noch beinahe kein Humus gebildet. Daraus geht bervor, daß zur Ansammlung von nur wenig Humus schon jahrhundertelange Waldvegetation notwendig ist. Wenn wir die langsame Humusbildung mit den massenhaften Humuslagern der oberen Lößterrassen vergleichen, so glauben wir, eine Zeitperiode von 1000 Jahren annehmen zu müssen, in welcher das heutige Gut Lilienhof schon mit Wald bestanden war, aus denen sich der Humus bildete. Es ist ein herrlicher Fleck, wo heute der "Lilienhof" oder, wie die Ihringer sagen, der "Ilgenhof" steht. Enormer Bodenreichtum, üppige Vegetation und günstige Lage. Man fragt sich unwillkürlich: Weshalb hat man diese Stelle nicht schon früher gerodet? Warum hat man dieses fruchtbare Gebiet so lange als Wald bestehen lassen? Eingangs ist vermerkt, daß man nirgends Reste einer früheren Siedlung gefunden hat. Man kann nur annehmen, daß der "Ilgenhof" ein Teil der am Ausgang des Haupttales, des "Mühletales", gelegene Überrest einer Gemeinde "Neukirch" gewesen ist. Von dieser ist - 1860 - nichts mehr vorhanden als die Kirche, der Gottesacker und zwei Mühlen. Heute sind auch diese Mühlen verschwunden. An ihrer Stelle erhebt sich, vorne an der Landstraße, ein Wohnhaus. Eigentümlich aber bleibt, daß in Urkunden vom 12. bis 15. Jahrhundert nirgends der Ort "Neukirch" oder "Neuenkirch" erwähnt wird. Dort auf dem Gottesacker tut ein Mann den ewigen Schlaf, der uns viele unserer Fragen beantworten könnte: Graf Bismarck, ein Neffe des einstigen Reichskanzlers. Graf Bismarck hat wahrscheinlich das Gut dem Walde abgerungen. Und wenn heute Ihringens Weine weithin im deutschen Vaterland berühmt sind, so waren das damals die Pferde, die aus dem Gestüt des Grafen Bismarck auf dem Lilienhof stammten. Seine Ruhestätte auf dem Friedhof in Neukirch befindet sich gerade gegenüber der Kirchentür. In goldenen Lettern ist auf dem Stein eingegraben:

Graf August von Bismarck, geb. 5. IV. 1849 in Konstanz, gest. 14. III. 1920 in Stegen.

Eine köstliche Erinnerung an diesen Grafen Bismarck möge dieses fragenreiche Kapitel abschließen. Die alten Männer von Ihringen erzählen sie mit Schmunzeln in guter Stunde. Da fährt einmal ein Bäuerlein aus Richtung Lilienhof dem Dorf zu. Der Dielenwagen ist hoch mit Klee beladen und wird von zwei kleinen Stierlein gezogen. Was es mit solchen Stierlein für ein Bewenden hatte, wissen die alten Ihringer noch zu Genüge. Das Bäuerlein hatte es sehr eilig. So schnell die Stierlein auch liefen, unaufhörlich treibt sie der Fuhrmann mit der Geißel. War denn der Wagen so schwer? Die Hälfte des Weges liegt hinter ihm. Auf einmal geschieht etwas ganz Dummes. Einige hundert Meter rechts vom Weg kommt eine stolze Kavalkade herangebraust. Herren und Damen in vornehmem Reitdreß auf den edlen Pferden aus dem gräflichen Gestüt. Voraus jagt eine Meute Hunde, deren Adel dem der Pferde nichts nachgab. Wie der Wind brausten sie über das freie Feld gerade auf die Stelle zu, wo sich der Bauer mit seinem Kleewagen befand. Er hielt vor soviel Pracht. Voraus ritt einer der Reiter an den Bauer heran. Es war der Graf Bismarck. Seine Begleiter kamen auch heran und hielten ehrerbietig hinter dem Grafen. Der Graf fragte den Bauern über dies und jenes aus seinem Alltag. Der Bauer gab Antwort. Aber etwas ängstlich, nervös? Unaufhörlich wischte er sich auch den Schweiß von der Stirne. Was war nur mit dem Bauern los? Aber der Graf kannte sich nicht nur aus bei den Pferden, er wußte auch Bescheid über die Menschen. Er sah den Hunden zu, wie sie wie toll am Kleewagen emporsprangen. Da wußte der Graf Bescheid. Der Bauer tat dies schon lange. Freundlich verabschiedete sich der Graf von dem Bauern und galoppierte mit seiner Begleitung davon. Und wohl oder übel konnten auch die Hunde nicht zurückbleiben. Dem Bauern aber war ein Stein vom Herzen gefallen. "Hüh!" rief er seinen Stierlein zu und fuhr heim. Dort Iud er den Klee ab, aber auch den Rehbock, der unter dem Klee verborgen war. " Ja", sagte er später zum Nachbarn, "unser Graf ist halt ein Ieutseliger Mann."

Ob diese "Leutseligkeit" den Bismarcks angeboren war? Unser alter Kirchenrechner von Ihringen, der Akziser Bühler, der in der Breisacher Straße gewohnt hat, ein guter, braver und treuer Mann, dem ein herbes Scheiden beschieden war, war in seiner früheren Zeit ein geschätzter Oberkellner. In der Hochsaison arbeitete er in den vornehmsten Hotels als "Ober". Bei dieser Gelegenheit lernte er die "Großen" der Welt kennen. Einmal arbeitete er im Hotel "Stephanie" in Baden-Baden. Er hatte den Reichskanzler Bismarck zu bedienen, der mit einer Anzahl von Freunden zusammensaß. Eben wollte der "Ober", also unser Bühler, dem Kanzler eine neue Flasche Sekt bringen, als er ausglitt, die Flasche fiel zu Boden und "verheite". Ihr könnt Euch denken, wie es dem armen Ober zu Mute war. Der Kanzler sah dem Unglück zu und rief sofort: "Das geht auf mein Konto! Bringen Sie mir eine neue!" Der Ober holte eine neue Flasche und servierte sie dem Kanzler. Was tat der? Er zog seinen Geldbeutel aus der Tasche, nahm ein Goldstück - 20 Mark - heraus und gab es dem Ober mit den Worten: "Das ist für Ihren Schrecken!" Der Ober nahm es und bedankte sich. Ja, auch der Kanzler Bismarek war leutselig. Wenigstens manchmal.

Dr. W. SIck

 

Auszug aus der Festschrift zur 1000-Jahr Feier
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